Am 6. Mai 2023 jährte sich der Beginn des NSU-Prozesses zum 10. Mal. Noch immer sind viele Fragen offen. Die Angehörigen der Opfer haben viel, wenn nicht alles Vertrauen in die Justiz verloren, wie die Eltern der Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız. Manche setzen Hoffnungen auf die Zivilgesellschaft. Aber die Justiz kann nicht aus ihrer Verantwortung entlassen werden. Wir müssen uns dem institutionellen Rassismus stellen.
Beginn: 18:00 Uhr
Ende: 20:00 Uhr
Eintritt: Gegen Spende
Ort: Kunstmuseum Bochum | Kortumstraße 147 | 44787 BochumNSU 2.0 und die Gefährdung des Rechtsstaats
Irgendwann aber kommt der Zeitpunkt, wo man sich dem Rassismus stellen muss,
wo man nicht mehr alles „überhören“ kann.
– Seda Başay-Yıldız
Die Frankfurter Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız wuchs in der hessischen Kleinstadt Marburg auf. Ihre Eltern kamen als “Gastarbeiter” nach Deutschland. Sie ging in Marburg auf’s Gymnasium und machte schon früh die Erfahrung, dass wer vorankommen will, nicht aufmucken darf. Schon gar nicht gegenüber rassistischen, fremdenfeindlichen und sexistischen Äußerungen. Zu ihren frühen Erfahrungen gehört die Atmosphäre der Gewalt und Angst vor Pogromen:
Die Brandanschläge des 22. bis 25. August 1992 in Rostock-Lichtenhagen auf ein Asylbewerberheim und ein Wohnheim für Vietname*innen, wo Schaulustige Beifall klatschen und die Polizei viel zu spät ein greift; der Brandanschlag am 23. November in Mölln. Drei Mitglieder der Familie Arslan – Bahide Arslan (51), Yeliz Arslan (10) und Ayse Yilmaz (14) sterben; am 23. Mai 1993, der Brandanschlag in Solingen, bei dem fünf Menschen sterben, Gürsün Ince (28), Hatice Genç (18), Gülüstan Öztürk (12), Hülya Genç (9) und Saime Genç (4).
Irgendwann, sagt Seda Başay-Yıldız – da war sie bereits Anwältin – kam der Moment, wo sie nichts mehr überhören konnte. Der Schutzmechanismus, den sie sich als Kind zugelegt hat, wandelte sich und sie wollte sich den Anfeindungen stellen. Ein Auslöser war die Selbstenttarnung des NSU (“Nationalsozialistischer Untergrund”). Neun Migranten und eine Polizeibeamtin wurden zwischen 2000 und 2007 von Rechtsterroristen ermordet: Enver Simsek (38), Abdurrahim Özüdogru (49), Süleyman Tasköprü (31), Habil Kiliç (38), Mehmet Turgut (25), Ismail Yasar (50), Theodores Boulgarides (41), Mehmet Kubasik, (39), Halit Yozgat (21), Michèle Kiesewetter (22). Seda Başay-Yıldız wird Anwältin der Nebenklage im NSU-Prozess und die Kriminalisierung der Opfer wird ihr bei der Akteneinsicht der Ermittlungsbehörden erst wirklich bewusst.
Der strukturelle Rassismus, den die Anwältin fortan thematisiert, geht weiter, und es folgen weitere Mordserien, in München 2018 und Hanau 2020. Dazwischen, im Jahr 2019, wird Walter Lübcke in Kassel ermordet. Da erst sprechen die Behörden erstmals von einer “Zäsur”. Zu dem Zeitpunkt hat Seda Başay-Yıldız bereits erlebt, dass sie und ihre kleine Tochter, später auch ihre Eltern, Morddrohungen per Fax bekommen und ihre persönlichen Daten im 1. Polizeirevier in Frankfurt abgerufen und veröffentlicht wurden. Sie stellt Anzeigen wegen der Drohbriefe – doch auch dann gehen sie weiter, unterschrieben mit NSU 2.0…
Am 6. Mai 2023 jährte sich der Beginn des NSU-Prozesses zum 10. Mal. Noch immer sind viele Fragen offen. Die Angehörigen der Opfer haben viel wenn nicht alles Vertrauen in die Justiz verloren. Wie die Eltern von Seda Başay-Yıldız bereits vor vielen Jahren. Manche setzen Hoffnungen auf die Zivilgesellschaft, doch die Justiz kann und darf nicht aus ihrer Verantwortung entlassen werden, weil wir uns dem institutionellen Rassismus stellen müssen.
Foto: Von Henning Schlottmann (Fotograf): Abdulkerim Şimşek, der Sohn Enver Şimşek, und Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız am Tag der Urteilsverkündung im NSU-Prozess am 11. Juli 2018 in München, Ausschnitt (Hochformat), Copyright CC BY-SA 4.0
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