Es ist Freitag, der 7. Januar 2005 gegen acht Uhr morgens und es ist kalt. Oury Jalloh aus Sierra Leone hat Liebeskummer. Der junge Mann von dunkler Hautfarbe läuft betrunken auf den Straßen Dessaus herum und trifft auf vier Ein-Euro-Jobberinnen, die Müll aufsammeln. Er bittet sie, ein Mobiltelefon benutzen zu dürfen, weil er „Tina“ anrufen will und soll am Rucksack einer der Frauen gezogen haben. Die fühlen sich belästigt und rufen die Polizei. Als zwei Beamte vor Ort erscheinen, steht Oury Jalloh in einiger Entfernung an eine Hauswand gelehnt, die Situation ist entspannt. Sie eskaliert, nachdem die Beamten den Ausweis von Oury Jalloh verlangen…
Ort: Q1-Eins im Quartier | Halbachstr. 1 | 44793 BochumGabriele Heinecke ist Rechtsanwältin und Fachanwältin für Strafrecht in Hamburg und Mitglied im erweiterten Vorstand des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins e.V. Sie vertrat die Familie des Oury Jalloh in dem Verfahren vor dem Landgericht Magdeburg und im Klageerzwingungsverfahren.
… Als die Polizei vor Ort ist, kommt es zum verbalen Streit und zu Handgreiflichkeiten. Irgendwann liegt Jalloh bäuchlings auf dem Boden, schreit, wird gefesselt, in den Funkstreifenwagen geschleppt und zum Revier gefahren. Vier Stunden später findet man die an Händen und Füssen angekettete Leiche von Oury Jalloh verkocht und verkohlt in der Gewahrsamszelle Nr. 5.
Wenige Stunden nach Feststellung des Todes geht das Gerücht, Jalloh habe sich selbst angezündet. Wie, weiß man nicht. Die Zelle ist gefliest, was kann da überhaupt brennen? Drei Tage nach dem Brand auf einmal die Entdeckung: in einem Beutel mit Brandschutt wird ein verschmorter Feuerzeugrest gefunden. Der war den Brandermittlern in der Zelle nicht aufgefallen, obwohl sie jeden Zentimeter mit den Händen durchsucht hatten.
Noch im Jahr 2005 wurde Anklage gegen einen der festnehmenden Beamten und den Dienstgruppenleiter des Polizeireviers erhoben. Das Landgericht sprach 2008 die beiden Polizisten frei. Doch das Urteil wurde im Jahr 2010 vom Bundesgerichtshof aufgehoben und zu neuer Verhandlung an das Landgericht Magdeburg verwiesen. Nach zweijähriger Verhandlung wurde im Jahr 2012 der Dienstgruppenleiter wegen fahrlässiger Tötung zu einer Geldstrafe verurteilt, weil die Überwachung des in der Zelle gefesselten Oury Jalloh unzureichend gewesen sei und es ihm darum möglich gewesen sei, mit einem in seiner Kleidung versteckten Feuerzeug selbst Feuer zu legen. Die Revision gegen dieses Urteil wurde 2014 vom Bundesgerichtshof zurückgewiesen. Das im Auftrag der Familie des Oury Jalloh Anfang 2019 mit dem Verdacht des Mordes durchgeführte Klageerzwingungsverfahren gegen zwei weitere Polizeibeamte wurde Ende 2019 vom Oberlandesgericht Naumburg abgelehnt. Die dagegen erhobene Verfassungsbeschwerde wurde Ende 2022 nicht zur Entscheidung angenommen.
Von der Nebenklage wurde anhand objektiver Beweise herausgearbeitet, dass Polizei und Staatsanwaltschaft nie ergebnisoffen ermittelt haben, sondern von Beginn an das Ziel verfolgt wurde, durch die Gerichte feststellen zu lassen, dass Oury Jalloh selbst und nicht dritte Personen – Polizeibeamte – den Brand gelegt haben. RAin Gabriele Heinecke berichtet darüber, wie die Polizei nach dem Brand eine Zeugenbetreuung organisierte, wie wichtige Beweismittel verschwanden, Videoaufnahmen der Kriminaltechnik an entscheidenden Stellen abbrechen, tatsächlich nie stattgefundene Stromausfälle die Beweissicherung behindert haben und – quasi aus dem Nichts – ein Feuerzeug auftauchte, das Werkzeug für die Selbsttötung gewesen sein soll.
Gesprächsleitung: Dr. Irmtrud Wojak, Geschäftsführerin der BUXUS STIFTUNG und Initiatorin des Fritz Bauer Forums
Beitragsfoto: Tim Hufner (Unsplash); Foto von RA Gabriele Heinecke: Fritz Bauer Forum
In unserer Veranstaltungsreihe begrüßen wir Anwält*innen aus ganz Deutschland, um über die vielfältigen Herausforderungen an Demokratie und Menschenrechte in unserer Gesellschaft zu sprechen. Kommen Sie und diskutieren Sie mit uns und unseren Gästen!
RA Dr. Achim Doerfer (Göttingen)
„Irgendjemand musste die Täter ja bestrafen“. Die Rache der Juden, das Versagen der deutschen Justiz nach 1945 und das Märchen deutsch-jüdischer Versöhnung
RA Dr. Florian Fischer (Düsseldorf)
Die Europäische Menschenrechtskonvention zwischen Ökonomie und Politik
RA Peter Fahlbusch (Hannover)
„Du gehörst nicht dazu“. Abschiebungshaft, ein Einblick in die Unterwelt des Rechts
RA Gabriele Heinecke (Hamburg)
Oury Jalloh – Mord in Zelle Nr. 5. Rassismus in der Polizei und die Rolle der Justiz
RA Thomas Galli (Augsburg)
Schuld – Strafe – Recht: Plädoyer zur Abschaffung der Gefängnisse. Anlässlich der Podcast-Vereöffentlichung „Schuld – Strafe – Recht?“ von Thomas Galli auf der Webseite des Fritz Bauer Forums
RA Seda Başay-Yıldız (Frankfurt am Main)
Gegen den staatlichen Rassismus – NSU 2.0 und die Gefährdung des Rechtsstaats
RA Dr. Rolf Gössner (Bremen)
Gefahren für Demokratie und Menschenrechte – Ein Blick zurück bis in die Gegenwart. Anlässlich der Übergabe der Bibliothek von Rolf Gössner an die Bibliothek des Fritz Bauer Forums
Ort: Januar – Mai: Q1-Eins im Quartier, Halbachstr. 1, 44793 Bochum; Juni – Juli: Fritz Bauer Bibliothek, Feldmark 107, 44803 Bochum
Zeit: 18.00 – 19.30 Uhr
Kontakt: Magdalena Köhler MA, Fritz Bauer Forum (Interaktive Fritz Bauer Bibliothek und Veranstaltungen), magdalena.koehler@buxus-stiftung.de